Der Gesetzeskommentar ist die Allzweckwaffe des Juristen, er erläutert die Paragraphen (und Artikel) eines Gesetzes (oder mehrerer Gesetze) ihrer Reihe nach. Als Textgattung ist er offensichtlich auf die Bedürfnisse der Rechtsanwendung hin optimiert, weil diese sich anhand und entlang konkreter gesetzlicher Regelungen (also Paragraphen) vollzieht. Das für März 2025 angekündigte Erscheinen eines mietrechtlichen „Schlagwortkommentars“ gibt dazu Anlass, die Textgattung des Rechtswörterbuchs näher zu betrachten und ihr eine in der Zukunft wachsende Bedeutung zu prophezeien.
Der Begriff des Schlagwortkommentars ist neu, die Gattung ist es nicht. Thematisch aufbereitete und alphabetisch gegliederte Kommentare gibt es, häufig unter der Bezeichnung als „Stichwortkommentar“, bereits seit langer Zeit. Letztlich geht es um nichts anderes als die Textgattung der Rechtswörterbücher.
Wer bei diesem Begriff zuerst an den Creifelds denkt, der liegt nicht falsch. Es gab und gibt aber auch spezialisierte Rechtswörterbücher, etwa eben zum Mietrecht, daneben zum Schadensrecht, Bürgergeld, Familienrecht, Nachbarrecht, Arbeitsrecht, Wettbewerbsrecht, IT-Recht und, vielleicht etwas exotisch, zum eSport-Recht und zu Legal Tech. Für Nichtjuristen gedachte Rechtswörterbücher gab oder gibt es etwa im Arbeitsrecht, im Mietrecht und im Sozialrecht.
Gleichwohl führen Rechtswörterbücher in der juristischen Literatur bislang eher ein Schattendasein. Das dürfte daran liegen, dass sie für die Bedürfnisse der Rechtsanwendung im Allgemeinen weniger gut geeignet sind als Gesetzeskommentare. Dieselben Faktoren aber, die den Erfolg von Rechtswörterbüchern bislang verhindert haben, könnten jetzt zu einer Renaissance dieser Textgattung führen.
Unter der Annahme, dass ein Gesetzeskommentar und ein Rechtswörterbuch identische Inhalte haben und derselbe Aufwand bei der Aufbereitung der Inhalte anfällt (möglicherweise schreiben sich Kommentare leichter, da bin ich nicht sicher), liegt der Unterschied zwischen beiden Textgattungen in der Art der Aufbereitung der Inhalte. Während ein Sachverzeichnis beim Gesetzeskommentar einen kurzen Anhang bildet und zum Nachschlagen der für einen Begriff einschlägigen Paragraphen dient, stellt es beim Rechtswörterbuch den alleinigen Inhalt dar, weil die Erläuterungen der im Verzeichnis enthaltenen Begriffe eben unmittelbar im Verzeichnis abgedruckt sind. Daraus ergibt sich beim Rechtswörterbuch im Vergleich zum Gesetzeskommentar eine doppelte Makro-Perspektive:
Die höhere Abstraktionsebene eines Rechtswörterbuchs gegenüber einem Gesetzeskommentar wird zum Vorteil, wenn die erläuterten Einzelregelungen unübersichtlich oder verstreut sind oder die Rechtswirklichkeit nur unvollständig abbilden, oder wenn der Rechtsanwender von der Regelungstiefe der Paragraphen überfordert ist. Mit anderen Worten: Wenn das Gesetz weit weg ist von der Rechtsanwendung, oder der Rechtsanwender weit weg vom Gesetz, dann ist das Rechtswörterbuch vorzuziehen.
Seine Stärken kann das Rechtswörterbuch insbesondere dort ausspielen, wo die gesetzlichen Regelungen die tatsächliche Rechtslage nur unvollständig abbilden, etwa wenn ein Rechtsgebiet maßgeblich durch die Rechtsprechung geprägt wird, oder wenn die einschlägigen gesetzlichen Regelungen über viele Gesetze verstreut sind. Dann macht nämlich die Gliederung nach Paragraphen nur noch eingeschränkt Sinn und ist die thematische Aufbereitung intuitiver. Es dürfte darum kein Zufall sein, dass der erwähnte neue Schlagwortkommentar gerade das Mietrecht abdeckt, das fast schon traditionell stark durch die Rechtsprechung geprägt wird. Querschnittsthemen, die in vergleichsweise vielen unterschiedlichen Gesetzen geregelt werden, eignen sich ebenso gut für eine thematische Aufbereitung im Rahmen eines Rechtswörterbuchs, etwa das Arbeitsrecht oder das IT-Recht.
Gerade die Querschnittsthemen sind es, die meinem Empfinden nach derzeit Konjunktur haben, weil neue politische, gesellschaftliche und technische Entwicklungen den Gesetzgeber zu Regelungen bewegen, die gewissermaßen quer zu herkömmlichen Rechtsgebieten und existierenden Gesetzen liegen. Ein Gesetzeskommentar wird solche Querschnittsthemen nie so gut abdecken können wie ein Rechtswörterbuch, und ein gutes Beispiel ist vielleicht der paragraphenorientierte IT-Rechts-Kommentar von Schuster/Grützmacher, der auszugsweise nicht weniger als 26 europäische und deutsche Gesetze kommentieren muss – hier hätte ich ein Rechtswörterbuch deutlich vorgezogen.
Ein zweiter Faktor, der Rechtswörterbücher im Vergleich zu Gesetzeskommentaren attraktiver macht, ist die Entfernung des Lesers und damit Rechtsanwenders zur erläuterten Rechtsmaterie. Der in einem Rechtsgebiet bereits bewanderte Praktiker wird den Gesetzeskommentar bevorzugen, weil er Paragraphen und die in ihnen enthaltenen Regelungen unmittelbar anwenden kann und anwendet. Der mit einem Rechtsgebiet nicht so vertraute Leser, ob nun Jurist oder nicht, wird eher zum Rechtswörterbuch greifen, um Regelungskonzepte, Regelungsstrukturen und Regelungsgegenstände zu erschließen und um die einschlägigen Einzelregelungen überhaupt aufzuspüren.
Es ist eben auch kein Zufall, dass sich solche Rechtswörterbücher, die sich erklärterweise nicht nur an Juristen richten, in Rechtsgebieten wie dem Arbeitsrecht, dem Sozialrecht und dem Mietrecht finden. Gerade in diesen Rechtsgebieten wollen Betroffene sich aus verschiedenen Gründen selbst einen Überblick über die Rechtslage verschaffen, statt dafür bereits anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bevorstehende Veränderungen in der Struktur des Rechtsberatungsmarkts in Deutschland dürften dazu beitragen, weitere Rechtsgebiete für Rechtswörterbücher zu erschließen.