Es liegt in der Natur der Sache, dass das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) und die auf seiner Grundlage erlassene Rechtsverordnung (BFSGV) Anforderungen an die Barrierefreiheit definieren (nämlich u.a. von IT-Produkten und IT-Dienstleistungen). Weil sie aber gleich sieben unterschiedliche Regelungsansätze verwenden, um diese Anforderungen zu definieren, wird es etwas unübersichtlich. In diesem Beitrag geht es um die sieben Regelungsansätze und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Um es vorweg zu nehmen: Von den sieben Regelungsansätzen zur Definition der Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen wird jedenfalls für IT-Produkte und IT-Dienste nur ein einziger Ansatz praktisch relevant sein, nämlich die in § 4 BFSG definierte Konformitätsvermutung bei Erfüllung der Anforderungen harmonisierter Normen.
§ 4 BFSG lautet wie folgt:
Bei Produkten und Dienstleistungen, die harmonisierten Normen oder Teilen davon entsprechen, deren Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind, wird vermutet, dass sie die Anforderungen der nach § 3 Absatz 2 zu erlassenden Rechtsverordnung erfüllen, soweit diese Anforderungen von den betreffenden Normen oder von Teilen dieser Normen abgedeckt sind.
§ 2 Nr. 19 BFSG enthält eine (unübersichtliche) Definition des Begriffs der harmonisierten Norm, gemeint sind bestimmte technische Normen, die im Auftrag der Europäischen Kommission erarbeitet wurden und auf die im Amtsblatt der Europäischen Union hingewiesen wurde. Solche Normen vereinheitlichen europaweit die an bestimmte Produkte und Dienstleistungen konkret gestellten technischen Anforderungen, die abstrakt in EU-Rechtsakten formuliert wurden. Harmonisierte Normen sind nicht als solche rechtsverbindlich, haben aber häufig gleichwohl eine Art faktischer Bindungswirkung.
Da das BFSG auf der EU-Richtlinie 2019/882 beruht und zu ihrer Umsetzung dient, bedeutet dies, dass Produkte und Dienstleistungen den Anforderungen des BFSG und der der BFSGV entsprechen, wenn eine harmonisierte Norm existiert, die die Anforderungen der BFSGV „abdeckt“, und wenn die Produkte und Dienstleistungen dieser Norm entsprechen. Das ist die sogenannte Konformitätsvermutung, deren Mechanismen in einem separaten Beitrag in diesem Blog erläutert werden. Die Konformitätsvermutung hat eine Art Beweislastumkehr zur Folge, so dass Behörden behauptete Verstöße gegen die Anforderungen an die Barrierefreiheit beweisen müssten, was ihnen gerade wegen der Erfüllung der Anforderungen der harmonisierten Norm praktisch nicht möglich sein dürfte: Die in harmonisierten Normen enthaltenen Anforderungen sind im Allgemeinen sehr detailliert und präzise formuliert, außerdem enthalten die Normen Anweisungen, wie die Erfüllung der Anforderungen praktisch getestet werden kann.
Nun ist es so, dass bereits eine solche harmonisierte Norm existiert, die die Anforderungen an die Barrierefreiheit von IT-Produkten und IT-Diensten definiert, und zwar die Norm EN 301 549. Sie wurde im Auftrag der Europäischen Kommission erarbeitet und zuletzt 2021 aktualisiert, um die in der EU-Richtlinie 2016/2102 definierten abstrakten Anforderungen an die Barrierefreiheit von Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen konkret zu definieren. Die Richtlinie 2016/2102 wurde in Deutschland durch das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung umgesetzt, die beide neben dem BFSG und der BFSGV bestehen bleiben werden. In Hinblick auf die Verabschiedung der EU-Richtlinie 2019/882 hat die Europäische Kommission 2022 einen Auftrag erteilt, die Norm EN 301 549 zu überarbeiten, um in ihr auch die zusätzlichen Anforderungen aus der neuen Richtlinie abzubilden. In ihren Grundzügen und auch in den meisten konkreten Anforderungen wird die Norm aber unverändert bleiben und so letztlich den Maßstab bilden, an dem sich die Barrierefreiheit von IT-Produkten und IT-Diensten wird messen lassen müssen. Wie dies praktisch funktioniert, wird in diesem Blog in einem separaten Beitrag erläutert.
Vor diesem Hintergrund werden die übrigen sechs Regelungsansätze und die aus ihnen folgenden Anforderungen an die Barrierefreiheit im Bereich von IT-Produkten und IT-Diensten keine praktische Bedeutung erlangen. Das ist insofern misslich, als diese anderen Regelungsansätze den Großteil der Regelungen jedenfalls der BFSGV ausmachen und den Leser so zu der Annahme verleiten, sie seien relevant. Der Vollständigkeit halber seien sie hier aufgeführt: