Mehrere Industrieverbände von IT- und Telekommunikationsanbietern haben in einem öffentlichen Verbändeschreiben vom 12. Juli 2024 diverse Punkte identifiziert, in denen die Auslegung und Anwendung des im Juni 2025 in Kraft tretenden Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes schwierig und unklar erscheint. In dem Schreiben heißt es, dass der Wortlaut des Gesetzes eine Reihe von Fragen offenlasse. Das ist sicherlich richtig, gleichwohl können die in dem Schreiben gestellten Fragen mit etwas gutem Willen mit Hilfe der üblichen Methoden juristischer Auslegung beantwortet werden. Das Verbändeschreiben soll hier darum zum Anlass genommen werden, diese Methoden zu demonstrieren, und zwar am Beispiel der Fragen 3 bis 5 des Schreibens, in denen es um die in § 38 Abs. 1 BFSG enthaltenen Übergangsbestimmungen für Dienstleistungen geht.
Übergangsbestimmungen sind hilfreich, um etwa betroffenen Unternehmen Zeit zu geben, sich auf eine neue Rechtslage einzustellen. Beide der in § 38 Abs. 1 BFSG enthaltenen Übergangsbestimmungen für die Erbringung von barrierefreien Dienstleistungen sind allerdings einigermaßen kryptisch formuliert. In § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG geht es um den Einsatz von Altprodukten beim Erbringen von Dienstleistungen nach Inkrafttreten des Gesetzes, in § 38 Abs. 1 S. 2 BFSG um Altverträge über die Erbringung von Dienstleistungen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen wurden.
In § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG heißt es:
Unbeschadet von Absatz 2 können Dienstleistungserbringer bis zum 27. Juni 2030 ihre Dienstleistungen weiterhin unter Einsatz von Produkten erbringen, die von ihnen bereits vor dem 28. Juni 2025 zur Erbringung dieser oder ähnlicher Dienstleistungen rechtmäßig eingesetzt wurden.
Es stellen sich mehrere Fragen, darunter diese Frage, die die Verbände formuliert haben:
- Gilt § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG auch für die Dienstleistung oder nur für die verwendeten Produkte?
Die Erbringung von Telekommunikationsdiensten ist eine Dienstleistung, die notwendigerweise unter dem Einsatz von Produkten erbracht wird, nämlich etwa von Endgeräten wie Festnetz- oder Mobiltelefonen. § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG regelt zwar die Erbringung von Dienstleistungen, ordnet aber lediglich an, dass unter den dort genannten Voraussetzungen übergangsweise ältere Produkte verwendet werden dürfen. Die Vorschrift bezieht sich nur auf solche Produkte, die gerade von den Dienstleistungserbringern zur Erbringung der Dienstleistung eingesetzt werden, insofern muss bei der Auslegung differenziert werden:
Es gibt allerdings eine Art von Produkten, die gerade die Anbieter von Telekommunikationsdiensten (noch) einsetzen, um ihre Dienstleistung zu erbringen, nämlich öffentliche Telefonzellen. Solche Telefonzellen sind Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für Telekommunikationsdienste verwendet werden (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BFSG), und § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG sagt nun, dass sie weiter verwendet werden dürfen. Daraus folgt denklogisch, dass der Telekommunikationsdienst, wenn er unter Einsatz solcher älterer und mutmaßlich nicht barrierefreier Telefonzellen erbracht wird, ebenfalls nicht barrierefrei erbracht werden kann: Ansonsten dürfte der Dienst ja gerade nicht unter dem Einsatz solcher Telefonzellen erbracht werden und würde für § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG keinerlei Anwendungsbereich mehr verbleiben. An der grundsätzlich bestehenden Verpflichtung zur Erbringung eines barrierefreien Dienstes ändert dies natürlich nichts, außer wenn der Dienst ausschließlich unter dem Einsatz von älteren Telefonzellen erbracht würde (was etwa voraussetzen würde, dass man von einer solchen alten Telefonzelle nur andere alte Telefonzellen anrufen kann).
Frage 3 ist also zu bejahen: § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG gilt letztlich auch für die Dienstleistung, nicht nur für das Produkt. Die Begründung des Regierungsentwurfs zum BFSG sieht dies ebenso (dort S. 95):
Die Vorschrift [..] ermöglicht es den Dienstleistungserbringern während eines Übergangszeitraums von fünf Jahren bei der Erbringung ihrer Dienstleistung weiterhin Produkte einzusetzen, die sie vor dem 28. Juni 2025 bereits zur Erbringung ähnlicher Dienstleistungen rechtmäßig eingesetzt haben. Dies gibt den Dienstleistungserbringern ausreichend Zeit, um ihre Dienstleistung an die neuen Barrierefreiheitsanforderungen anzupassen und verringert für sie sowohl den Aufwand als auch die Kosten.
§ 38 Abs. 1 S. 2 BFSG regelt das Schicksal von Verträgen über die Erbringung von Dienstleistungen, die vor Inkrafttreten des BFSG geschlossen wurden, und ist einigermaßen missglückt formuliert:
Vor dem 28. Juni 2025 geschlossene Verträge über Dienstleistungen dürfen bis zu dem Ablauf der Zeit, für die sie eingegangen sind, allerdings nicht länger als bis zum 27. Juni 2030 unverändert fortbestehen.
Ihrem Wortlaut nach bezieht sich diese Regelung auf alle Verträge über alle vom BFSG erfassten Dienstleistungen und scheint zwingend eine Vertragsanpassung zu fordern, was den Verbänden auch aufgefallen ist:
- Müssen alle Verträge nach § 38 Abs. 1 S. 2 BFSG angepasst werden oder ist eine Anpassung nur dann nötig, wenn anders Barrierefreiheit nicht gewährleistet wäre?
- Ist das Verständnis korrekt, dass TK-Dienste, die auf Grundlage eines vor dem 28.06.2025 abgeschlossenen Vertrags angeboten werden (d. h. alle Bestandskunden zu diesem Zeitpunkt), bis zum 27.06.2030 von Anforderungen des BFSG befreit sind?
Die gesetzgeberische Erwägung hinter § 38 Abs. 1 BFSG ist sicherlich insgesamt, Unternehmen eine Art Bestandsschutz zu gewähren. Während dies für § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG wegen der bei der Neuanschaffung von Produkten anfallenden Kosten unmittelbar einleuchtet, ist die konkrete Bedeutung von § 38 Abs. 1 S. 2 BFSG weniger klar: Die Anforderungen an die Barrierefreiheit von Dienstleistungen gelten gemäß § 1 Abs. 3 BFSG grundsätzlich für alle Dienstleistungen, die „nach dem 28. Juni 2025 erbracht werden“, und § 38 Abs. 1 S. 2 BFSG sagt gerade nicht, dass die Dienstleistungen nicht barrierefrei erbracht werden müssen, sondern auf den ersten Blick lediglich, dass bestehende Verträge übergangsweise nicht angepasst werden müssen, was etwas anderes ist.
Gemeint ist allerdings in der Tat, dass alle Dienstleistungen, die vom BFSG erfasst werden und die auf Grundlage eines vor dem Stichtag geschlossenen Altvertrags erbracht werden, für einen Übergangszeitraum von bis zu fünf Jahren von den Anforderungen an die Barrierefreiheit ausgenommen sind. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem BFSG, dafür aber aus der EU-Richtlinie (EU) 2019/882, zu deren Umsetzung das BFSG dient. Art. 32 der Richtlinie enthält eine § 38 BFSG korrespondierende Übergangsregelung, konzeptionell anders als im deutschen Recht wird aber sowohl bei der Aufzählung der von der Richtlinie umfassten Dienstleistungen (Art. 2 Abs. 2 RL) als auch bei der Definition der Barrierefreiheitsanforderungen für Dienstleistungen (Art. 13 Abs. 3 RL) ausdrücklich auf die in Art. 32 RL Bezug definierten Ausnahmen Bezug genommen, die „unbeschadet“ bleiben sollen, d.h. vorrangig gelten.
Dienstleistungen, über deren Erbringung ein Vertrag vor dem 28. Juni 2025 geschlossen wurde, sind also bis zum Ablauf des jeweiligen Übergangszeitraums gar keine „Dienstleistungen“ im Sinne der Richtlinie und müssen in diesem Zeitraum somit auch nicht barrierefrei sein. Auf den Inhalt des Vertrags kommt es darum nicht an, sondern auf die durch den Vertrag eintretende Bindung der Vertragsparteien, die den Bestandsschutz (s.o.) auslöst. Frage 5 kann somit vorläufig so beantwortet werden, dass das dort geäußerte Verständnis grundsätzlich korrekt ist.
Was nun die Formulierung des „unveränderten“ Fortbestehens solcher Verträge betrifft, so ist es wenig nachvollziehbar, wenn in der Begründung des Regierungsentwurfs zum BFSG auf eine anfängliche vertragliche Dispositionsbefugnis über Barrierefreiheitsanforderungen abgestellt wird (dort S. 95, in der Begründung des zeitlich früher entstandenen Referentenentwurfs zum BFSG ist diese Aussage noch nicht zu finden):
Vor dem 28. Juni 2025 geschlossene Verträge über Dienstleistungen dürfen nach Absatz 1 Satz 2 bis zu dem Ablauf der Zeit, für die sie eingegangen sind, allerdings nicht länger als bis zum Ende des Übergangszeitraums am 27. Juni 2030 unverändert fortbestehen. Bis dahin müssen die Vertragsparteien ihre bestehenden Verträge entweder durch Änderungen an die Barrierefreiheitsanforderungen dieses Gesetzes anpassen oder sie beenden.
Das BFSG ist zwingendes Recht, und zwar nicht erst ab 2030, insofern sind von seinen Anforderungen abweichende vertragliche Regelungen ohnehin unbeachtlich und ist es auch gar nicht erforderlich, dass Verträge Anforderungen an die Barrierefreiheit enthalten.
Es geht vielmehr darum, dass solche Altverträge die Ausnahme von der Pflicht, die Anforderungen des Gesetzes an die Barrierefreiheit von Dienstleistungen zu erfüllen, nur so lange vermitteln, wie sie fortbestehen, und zwar gerade unverändert: Sobald Altverträge inhaltlich derart angepasst werden, dass sich Gegenstand oder Inhalt der zu erbringenden Dienstleistungen ändern, ist das Bestandsschutzinteresse des Dienstleistungserbringers nicht länger schutzwürdig und soll er so behandelt werden, als wenn er erst nach dem 28. Juni 2025 einen Neuvertrag abgeschlossen hätte. Eine solche Auslegung passt auch zu den Erläuterungen in Erwägungsgrund 101 der Richtlinie, wo für die § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG zugrundeliegende Regelung Folgendes ausgeführt wird:
Damit die Dienstleistungserbringer ausreichend Zeit zur Anpassung an die Anforderungen dieser Richtlinie haben, bedarf es eines Übergangszeitraums von fünf Jahren ab dem Geltungsbeginn dieser Richtlinie, während dessen Produkte zur Erbringung einer Dienstleistung, die vor diesem Zeitpunkt in Verkehr gebracht worden sind, nicht die Barrierefreiheitsanforderungen dieser Richtlinie erfüllen müssen, es sei denn, sie werden von den Dienstleistungserbringern während dieses Übergangszeitraums ersetzt.
Wenn die in § 38 Abs. 1 S. 1 BFSG enthaltene Übergangsregelung nur so lange anwendbar sein soll, wie der Dienstleistungserbringer tatsächlich Altprodukte einsetzt, nicht mehr aber, wenn er diese Produkte durch Neuprodukte ersetzt, muss dasselbe für die Erbringung von Dienstleistungen auf Grundlage eines Altvertrags gelten: Die durch den Altvertrag anfänglich vermittelte Privilegierung entfällt, sobald die in dem Altvertrag vereinbarte Dienstleistung nachträglich angepasst wird. Insofern ist Frage 4 so zu beantworten, dass Verträge jedenfalls auf Grundlage des BFSG überhaupt nicht angepasst werden müssen. Für Frage 5 bedeutet dies, dass die dort angesprochene Befreiung von den Anforderungen des BFSG eben nur so lange gilt, wie die Altverträge nicht inhaltlich geändert werden.